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Auf der Höhe:
San Bernardino

Seit acht Tagen reise ich mit meinem Sohn in unserem kleinen Bus, der uns Fahrzeug und Unterkunft in einem ist, durch die Schweizer Alpen und an den oberitalienischen Seen entlang. Diese Form des Reisens ist für mich noch ungewohnt. Wir haben kaum konkrete Ziele, wir müssen nie zu einer festen Zeit an einem bestimmten Ort sein. Wir halten an, wenn wir einen Ort erkunden wollen. Wir fahren weiter, wenn wir unruhig werden. Wir essen, wenn wir hungrig sind oder Appetit auf etwas haben, was uns begegnet. Wir schlafen, wenn wir müde sind.

Auf dem Gotthard-Pass haben wir vor einer Woche übernachtet und eine kurze Wanderung gemacht, bei der wir die eindrucksvolle Berglandschaft betrachteten. Wir sammelten glimmernde Steine, rostige Nägel und verwitterte Hölzer. Wir besichtigten die kalten, feuchten Gänge der einst geheimen Festung der Schweizer Armee. Leonard war fasziniert von den Kanonen, Gewehren und Granaten. Mich beeindruckte, dass die Gänge und Kammern in nur vier Jahren nach 1940 entstanden sind, ohne dass die Arbeiten auf der Passhöhe für Besucher kenntlich wurden. Nicht mehr als zwei Tote waren bei den gewagten Tunnelarbeiten, bei denen auch Sprengungen eingesetzt wurden, zu beklagen. Wie viele Gastarbeiter sind beim Bau der Stadien für die Fußball-WM in Katar umgekommen? Die Presse spricht von bis zu 15 000 Toten.

Gestern Abend um 20.35 Uhr bin ich mit meinem Sohn Leonard auf dem San Bernardino-Pass angelangt, außer uns war nur ein weiteres Fahrzeug hier oben. Im erleuchteten Fenster des Hospiz konnten wir einen Mann sehen, der sein Abendessen zubereitete. Nach einer regnerischen Nacht nahmen wir heute morgen Platz an den kleinen, eckigen, rot lackierten Tischen vor dem Hospiz. Der teils abgeplatzte Lack zeugt davon, dass diese Tische schon lange hier im Einsatz sind. Unter dem Rot zeigen sich ein Senfton, darunter Orange, dann wieder Rot. Ich trank einen ersten Kaffee.

 

Keiner hat einen Blick übrig für die heroische Landschaft, die uns umgibt. Die von phosphorgelben Flechten überzogenen Steine, die schroffen Felsformationen und Gipfel. Nicht für die Wolken, die der Wind zwischen den Bergen vor sich hertreibt und damit für eine ständig wechselnde, mal dramatische, mal liebliche Szenerie sorgt. Sie hören nicht, wie der Wirt beim Blick in den Himmel gen Westen murmelt „…gibt Regen heute Mittag…“, während er geduldig die Tische eindeckt und mit einem Rechen mit sehr kurzen Zinken den Kies zwischen den Tischen glättet.

Am Nachbartisch hat eine unüberhörbar aus Schwaben stammende Familie Platz genommen, drei Generationen, ein Hund. Die vielleicht 40-jährige Mutter trägt drei Piercings in der Unterlippe, eines in der Oberlippe, eines in der Nase. Wie Leonard freudig berichtet, trägt sie einen schlecht tätowierten Sturmtruppler auf ihrer einen Wade, neben anderen StarWars-Tattoos. Jetzt ist es kurz vor 11 Uhr, es wird voller, immer lauter, wir brechen jetzt zu einer kleinen Wanderung auf mit der kleinen Spitzhacke im Gepäck, die wir in einem kleinen Laden am Lago erworben haben. Wir wollen sehen, was der Weg an Überraschungen für uns bereithält.

In loser Folge schildere ich unter dem Hashtag #alterweißerMann meine Erlebnisse und Gedanken des vergangenen Tages. Dazu angeregt hat mich das Gespräch mit Anya Schutzbach, die ich am 30. März 2022 nach langer coronabedingter Pause endlich wieder getroffen habe. Wir unterhielten uns über den Zustand der Welt, was uns gerade gedanklich beschäftigt, und über die Veränderungen des Miteinanders und Gegeneinanders in der Gesellschaft.

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KATEGORIENALLES, FAMILIE
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