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Durchatmen:
Ein neues Land

Ich reise heute mit dem ICE von Frankfurt am Main nach Locarno an den Lago Maggiore. Als ich mich auf meinen reservierten Platz setze und für einen Moment meine Tasche auf den freien benachbarten Platz stelle, blökt mich eine alte Frau vom gegenüberliegenden Sitz an: »Der ist besetzt!« Ich entgegne ein »Guten Morgen« und stelle die Tasche in die Ablage. Die alte Frau und der Gatte, der kurz darauf vom Kaffeeholen zurückkommt, sehen sich sehr ähnlich. Sie tragen Brille, kurze graue Haare, sie mit einem Schuss ins Orange. Er ist schlank, sie ist sehr beleibt. Die Dialoge der beiden beschränken sich auf leise, hässliche Bemerkungen ihrerseits zur Zugfahrt, zu den anderen Fahrgästen, zur Hitze, zum Leben. Er dreht Däumchen, schaut ständig zur Uhr und stimmt seiner Gattin von Zeit zu Zeit geistesabwesend mit einem kurzen Nicken und Lachen zu. Sie verströmt hinter einer Maske aus wurstiger Lustigkeit eine starke Aggression.

Mir gegenüber sitzt eine attraktive Frau um die 30, die sich konzentriert mit ihrem aufgeklappten Laptop beschäftigt. Als sich unsere Blicke treffen, lächle ich sie an. Daraufhin versteinert sich ihre Miene. Vermutlich empfand sie meine Mimik als Übergriff eines alten weißen Mannes, zumindest aber als aufdringlich. Ich schreibe weiter Mails und lese.

Der Zug kommt im Bahnhof von Offenburg zum Stehen. Plötzlich wird es laut. Primitive deutschsprachige Musik ertönt wummernd aus einem Ghettoblaster. Ein Junggesellinnenabschied steigt ein. Die jungen Frauen tragen alle das gleiche Batikdruck-T-Shirt in grellem Pastell, dazu Hotpants, die ihre unförmigen Schenkel betonen. Die Braut trägt ein T-Shirt, auf dem originellerweise „Bride“ steht. Alle haben rosafarbene Plastikbrillen mit Gläsern in Herzform auf der Nase und die Haare geflochten und hochgesteckt. Auf dem Kopf tragen sie Plastikblumenkränze mit blinkender LED-Beleuchtung. Sie sprechen badischen Dialekt und tragen eine aufgesetzte Fröhlichkeit zur Schau. Sie sind mehr Kinder als Frauen, vermutlich kaum älter als 20. Eben haben sie schlecht gesungen, bevor sie alle ein blaues Likörchen aus einem kleinen Pappbecher tranken, das aussah wie Frostschutzmittel. Alle fühlen sich originell, unkonventionell, sind unglaublich laut und entsprechen dabei doch einer provinziellen neuzeitlichen Konvention. Gelacht wird möglichst laut und schrill. Sie fotografieren sich gegenseitig pausenlos. Männer auf den umliegenden Plätzen werden aufgefordert, ein Likörchen zu kaufen zur Finanzierung des anstehenden Besäufnisses in Basel, und müssen der künftigen Braut ein Loch in ihre formlose Verhüllung aus weißem Tyvek schneiden. Vor jedem Likör singen die Frauen »Warum ist es am Rhein so schön…«. Sie singen schlecht, sie singen falsch, sie singen laut. Vor zwei Jahrzehnten war solch ordinäres Verhalten ein Privileg von Männern, meist Fußballfans oder Kegelclubs. Der Feminismus hat ganze Arbeit geleistet. Was erhoffen sich die künftige Braut und ihre Begleiterinnen von diesem Ausflug? Die Erinnerung an einen »Exzess«? An Kreischen, lautes Lachen, an oberflächliche, stumpfsinnige Scherze? Ans Betrunkensein und daran, wie man sich in der Nacht gegenseitig beim Kotzen die dann vermutlich offen getragenen Haare hielt?

In solchen Momenten entwickle ich eine vor Monaten erstmals angedachte Utopie weiter:
Bayern separiert sich von der Bundesrepublik Deutschland und schließt die Grenzen. Eine demokratische Regierungsform wird angestrebt, sicher ist zu diesem Zeitpunkt aber nur, dass die Demokratie definitiv nicht repräsentativ sein wird. Man entscheidet, dass man auf die Segnungen des Internets vollständig verzichten möchte. Dann fordert das Königreich Bayern alle alten Einwohner zum Verlassen des Landes auf, nur eine Verwaltungseinheit bleibt zurück, um den künftigen Zuzug ins Königreich zu reglementieren und zu organisieren. Strenge Regeln werden aufgestellt. Einwandern dürfen nur Menschen, die die folgenden Aufgaben bewältigen können und sich mit diesen Regeln einverstanden erklären:

· Sie grüßen den königlich-bayrischen Beamten bei der Einreise.
· Sie können mindestens drei Gedichte auswendig aufsagen.
· Sie können eine gestellte Aufgabe unter Zuhilfenahme des Dreisatzes berechnen.
· Sie können ein Volkslied leidlich gut singen.
· Sie sprechen eine Sprache flüssig und mit großem Wortschatz, egal welche.
· Sie können fünf historische Persönlichkeiten beim Namen nennen und darstellen, warum man sich heute noch an sie erinnern sollte.
· Sie erkennen an, daß (sic!) die Menschen nicht gleich sind, sondern nur die gleichen Rechte haben.
· Sie tragen bei der Einreise einen beliebigen Band der edition suhrkamp bei sich.
· Sie können ein Gebet sprechen, gleich aus welcher Religion.
· Sie akzeptieren die Wiedereinführung der alten deutschen Rechtschreibung.
· Sie verzichten auf Werbung im öffentlichen Raum und im Radio.
· Sie verpflichten sich, ein Instrument zu erlernen, falls sie es nicht bereits können.
· Das generische Maskulinum wird widerspruchslos akzeptiert.
· Ein benzingetriebenes Fahrzeug ist bei der Einreise keine Pflicht, wird aber ausdrücklich begrüßt.

 

 

Endlich die Grenze zur Schweiz überschritten. Beim Umstieg in Olten dunkelgraue Typografie auf grauem Sichtbeton. Es sind keine Graffiti zu sehen. Der Zug der schweizerischen Südostbahn wirkt wie ein Fahrzeug für Erwachsene, im Gegensatz zum deutschen ICE, der wirkt wie ein gepolsterter Aktivspielplatz. Der Schweizer Bahnwagen hat hohe Decken, alles ist in Grautönen gehalten, nur die dunkelroten Polster setzen einen dezenten farblichen Akzent. Die Menschen wirken gelassener, heiterer. Die Frauen tragen nicht permanent, wie in Frankfurt, ihr Leiden an der Welt und an den Männern und den tief verwurzelten Glauben daran, dass ihnen ständig Unrecht widerfährt, in den Gesichtszügen zur Schau. Das Wasser der Flüsse ist graugrün wie das ausgewaschene Shirt, das ich trage. Vor den Fenstern Architekturen, die kein Ausdruck von Individualität sein wollen, sondern Zweckbauten im besten Sinne: Scheunen, Fabriken, Wohnhäuser, Brücken – nicht mehr, auch nicht weniger. Die Natur der (Vor-)Alpenlandschaft und die Materialisierungen der Schweizer Kultur gehen eine gelingende Symbiose ein. Eine Durchsage ertönt auf Deutsch und in gepflegtem, lässigen Englisch. Ich sehe immer wieder die unbelastete Schweizer Fahne im Wind stehen, der nur die japanische Flagge an Klarheit und Schönheit gleichkommt. Jetzt der erste Blick auf ein Bergpanorama in verblauter Ferne. Wie immer denke ich in diesem Moment an die Malereien Hodlers, die ich so liebe.

Durchatmen.

 

In loser Folge schildere ich unter dem Hashtag #alterweißerMann meine Erlebnisse und Gedanken des vergangenen Tages. Dazu angeregt hat mich das Gespräch mit Anya Schutzbach, die ich am 30. März 2022 nach langer coronabedingter Pause endlich wieder getroffen habe. Wir unterhielten uns über den Zustand der Welt, was uns gerade gedanklich beschäftigt, und über die Veränderungen des Miteinanders und Gegeneinanders in der Gesellschaft.

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