Eros & Thanatos
Erkenntnis aus dem Automaten
Ich erinnere mich gut an den gelben PEZ-Box-Automaten, an dem ich oft auf dem Weg von der Schule nachhause vorbeikam. Nach einem gezielten Tritt auf die Mitte der Frontfläche spuckte er gelegentlich eine Münze aus. Auf die Fläche aufgemalt war eine junge Frau mit üppigem Haar und leicht geschürzten Lippen, die uns Passanten einen fest mit der Faust umschlossenen PEZ-Spender – wie ich schon damals fand – mit lasziver Geste entgegenstreckte. An anderen Tagen nutzte ich den Automaten auch in seinem eigentlichen Sinn und versüßte mir mit seinem Inhalt den Heimweg.
Deutlich weniger Reiz übten die klassischen roten Automaten auf mich aus, wenn sie nur Kaugummis enthielten. Attraktiver waren sie, wenn sie sinnlosen billigen Kram aus Kunststoff, aber eben damit auch Überraschungen enthielten. Als ich mit meinen Freunden Andreas Bee, Peter Sauerer und Trude Friedrich im Frühling 2019 darüber nachsann, ob wir nicht zusammen eine Ausstellung im Wartesaal des Bahnhofs von Walleshausen machen sollten, war ich schnell entschlossen, etwas mit einem solchen Automaten zu versuchen. Nun war ich kein Kind mehr und auch der Automat und sein Inhalt sollten, wie ich selbst, gereift sein. Einen alten Automaten fand ich im Netz, über den Inhalt begann ich nachzudenken. Der Automat sollte keine einfachen Weisheiten ausspucken, wie man sie in Glückskeksen findet. Er sollte keine einfachen Antworten liefern. Also musste er Fragen stellen: Fragen, die man sich im Alltag nicht stellt, Fragen, deren Beantwortung aber im besten Fall eine Kenntnis über den eigenen Standpunkt liefern. Als die Arbeit am Automaten konkreter wurde, hatte ich gerade mit knapper Not einen schweren Unfall überlebt. Es war eine Zeit, in der ich mir selbst viele essentielle Fragen stellte. Der Tod war zu dieser Zeit ein natürliches Thema, dazu kam die Sinnlichkeit, die noch nie kein Thema war. Die Antworten sollten also das eigene Verhältnis zu Eros und Thanatos klären helfen. Die 20 Cent, die das Drehen des silbernen Knaufs um 360° erlaubten, sollten im Nachhinein gut investiert erscheinen. Also dachte ich über eigene Fragen nach, sammelte Fragen und druckte diese am Ende auf Papier, schnitt dieses zu schmalen Streifen, rollte die Streifen auf und legte sie in Kapseln, mit denen der Automat befüllt wurde.
Meine Freunde hatten für ihre eigenen Arbeiten völlig andere Ansätze. Die Vernissage der Ausstellung im winzigen Wartesaal in Walleshausen war gut besucht, wir verbrachten im September 2019 einen schönen Abend im Kreis von Künstlern, Freunden und Einheimischen aus dem Dorf. Oft habe ich mich gefragt, ob die in den folgenden Monaten zufällig den Wartesaal betretenden Menschen, die den Knauf gedreht hatten, zu Gedanken ge- und verführt wurden, die ihren Standpunkt veränderten.
Der Text von Andreas Bee in der Einladung zur Ausstellung: »Ich könnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein. Wenn nur nicht die Bahnhöfe wären«, schrieb Joseph Roth. Abreise und Ankunft, schmerzliche Trennung und innige Begrüßung: Bahnhöfe sind Schicksals- und Sehnsuchtsorte. Bei Tolstoi zum Beispiel verliebt sich Graf Wronskij auf dem Petersburger Bahnhof in Anna Karenina. Italo Svevo lässt in seiner Erzählung Kurze sentimentale Reise den biederen Geschäftsmann Aghios in Mailands Stazione Centrale erst den Zug nicht finden und dann den Halt verlieren. George Simenon holte sich am Gare du Nord in Paris all die Eindrücke, die er dann seinem legendären Kommissar Maigret mitgab. Paul Celan erkannte 1938 im Berliner Anhalter Bahnhof das Menetekel kommender Zeiten, während derselbe Bahnhof in Walter Benjamins Gedächtnis eine geliebte Kindheitserinnerung darstellt.
Und Walleshausen? Weiß auch dieser kleine Bahnhof etwas von Freuden, Tränen und großen Gefühlen? Lernten sich hier wie in Tolstois Roman zufällig Menschen kennen, die ihr ganzes Leben zusammenblieben? Welche erzählenswerten Begegnungen und Beinahe-Begegnungen haben hier stattgefunden? Wie oft hat sich hier das Wirkliche mit dem Möglichen vereint? Wir werden es nicht erfahren.
Der Wartesaal des Bahnhofs in Walleshausen wird heute kaum noch genutzt. Es ist ein schöner, langgestreckter Raum mit zwei großen Fenstern und einer langen Holzbank. Wenn wir uns von Frankfurt und Berlin kommend in Walleshausen trafen, um uns zu sehen, wenn wir im Garten von Peter Sauerer und Trude Friedrich unter dem Apfelbaum saßen und uns über Gott und die Welt Gedanken machten, wenn wir am nächsten Tag gemeinsam auf den Zug nach Diessen warteten, um uns am Ammersee über das Natur- und Kunstschöne zu freuen, wenn wir dann am Sonntag etwas wehmütig wieder nach dem Zug nach München Ausschau hielten, dann wussten wir stets, dass dieser Bahnhof uns über den Tag hinaus verbindet.
Andreas Bee glaubt, dass es kaum etwas Wahres außerhalb der Kunst gibt – seine Tochter Ada ausgenommen. Trude Friedrich fertigt aus Holz und alltäglichen Gegenständen zauberhafte Kunstwerke. Peter Sauerer bewegt sich in einer Welt aus Flug- und Fahrzeugen, Waffen, Geschichten und Geschichte und lässt uns durch seine einzigartigen Schnitzereien daran teilhaben. Carsten Wolff liebt seine Söhne, die gute Form und gut geformtes, schnelles Blech – und gute Kunst, egal aus welcher Zeit.
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