theme-sticky-logo-alt
theme-logo-alt

Im MILF-Quartier

Mein Leben ist in einer Sackgasse angekommen, dachte ich, als ich vor fünf Jahren in dieses Viertel zog. Ich bezog mit meiner damaligen Partnerin und meinen zwei Söhnen eines der Häuser, die alle gleich aufgebaut sind und deren Fronten so austauschbar aussehen, dass ich nach wenigen Tagen eine gelbe Bank vor »unser« Haus stellte, damit ich abends beim nachhause kommen nicht mehr unsicher sein musste, wo sich die Einfahrt zu meiner Garage befindet. Als das Viertel noch im Bau war, lief ich regelmäßig mit meinem neugeborenen Sohn, der kaum schlief, im Wagen durch die Baustelle und fragte mich, wie man hier wohl wohnen könne, in dieser Enge, so dicht aufeinander. Ich war auf der Suche, wir wohnten zu dieser Zeit im zweiten Stock über dem Apfelwein Wagner in der Schweizer Straße und der Krach war schwer auszuhalten.

Als wir dann zwei Jahre später einen Wink bekamen, dass hier ein Haus frei würde, waren wir dankbar und glücklich, vom Vermieter den Zuschlag zu erhalten. Wir zogen ins ›Milf-Quartier‹, wie die Männer der Straße es hinter vorgehaltener Hand nannten. Als Vater zweier Kinder kamen mir die Sackgasse, die Spielstraße, die Garage (!) wie ein Paradies vor. Keine langen Suchen mehr rund um die Schweizer Straße nach einem Parkplatz, keine Unsicherheit mehr am Morgen, wo ich 12 Stunden zuvor geparkt hatte, kein samstägliches Schleppen von Bergen von Einkäufen von solch einem Parkplatz durch die Straßen in den zweiten Stock. Kurz, ich war sehr zufrieden. Die Gärten hinter den Häusern waren zueinander offen, meinen Kleinen konnte ich sorglos vorne auf die Straße oder hinten in die Gärten schicken. Die Nachbarn waren unkompliziert, gelegentlich grillte man zusammen oder traf sich auf ein Glas Wein. Die Kinder spielten miteinander und wussten in jedem Haus wo die Küche, das Kinderzimmer, wo die Toiletten ist, da ja alle Häuser gleich aufgebaut sind.

In meinem Wohn- und Esszimmer hängen, vermutlich kann man sie von der Straße aus sehen, zwei riesige schwarze Schraubenschlüssel, etwa 60cm lang. Den einen schenkte mir der Künstler Ernst Stark vor etwa zehn Jahren, als Dank für die Gestaltung eines seiner Kataloge. Er ist aus Holz geschnitzt, schwarz gefärbt und ist beschriftet mit ›Greg, 61cm‹. Er stammt aus einer wilderen Zeit in Ernsts Leben. Jedem Mann, mit dem er eine Nacht verbrachte, widmete er in der Folge ein geschnitztes Werkzeug. Die Werkzeuge haben verschiedene Farben, tragen verschiedene Namen und unterschiedliche Maßangaben. Viel Phantasie zur Deutung ist nicht nötig – obwohl, bei den 61cm vielleicht doch. Als ich dann hier ins Viertel gezogen war, brachte er zu einem Abendessen einen auf den ersten Blick identischen Schraubenschlüssel mit, ebenfalls schwarz, aber aus Stahl. Bevor das Wohnviertel hier entstanden war, gab es einige alte Baracken an den Bahngleisen, manche dienten als Ateliers, in manchen waren kleine Unternehmen untergebracht. Ernst hatte den Stahlschlüssel in dieser Zeit auf den Gleisen gefunden und mitgenommen. So schloss sich mit der Wiederkehr des Schlüssels ein Kreis.

 

Mein Wohnzimmer mit Werken von Bénédicte Peyrat, Ernst Stark, Vroni Schwegler, Carmen Hiby, Trude Friedrich und Karl Josef Litschauer.

Mein Wohnzimmer mit Werken von Bénédicte Peyrat, Ernst Stark, Vroni Schwegler, Carmen Hiby, Trude Friedrich und Karl Josef Litschauer.

 

Nach und nach lernte ich meine neue Umgebung, meine Nachbarn besser kennen, ein Menschenzoo:

Da war der Nachbar, der sich vor jedes Auto warf, das die Schrittgeschwindigkeit überschritt und lautstark die Fahrerinnen oder Fahrer auf ihr Fehlverhalten hinwies. Der dann auch nächtlich vor ihrem Haus Parkende anonym anzeigte, dabei aber übersah, dass ein Nachbar Anwalt ist und Einblick in die Unterlagen erhalten konnte und so erfuhr, wer der Anzeigende gewesen war.

Da ist die Frau, die mein kleiner Sohn immer nur ehrfurchtsvoll »die blonde Frau« nennt: groß gewachsen, schlank, ebenmäßiges Gesicht, lange blonde Haare und immer auffallend gut gekleidet. Sie war ihm das erste Mal aufgefallen, als er an einem Samstag an unserem Esstisch saß und zufällig aus dem Fenster sah, als sie vorbei schritt auf ihren hochhackigen Schuhen. »Mama, hast Du die Frau gesehen!«, rief mein Fünfjähriger ganz außer sich und starrte ihr hinterher. »Hast Du gesehen, wie schön die war!« Als er seine kleine, dunkelhaarige Mutter anblickte, die nicht einstimmen wollte in seine Euphorie, ergänzte mein kluger, lieber Sohn leise: »Natürlich nicht so schön wie du, aber schon sehr schön…« Und dann wanderte sein Blick wieder zum Fenster und verfolgte den wiegenden Gang der blonden Frau.

Da ist die Nachbarin, die an unserer Tür klingelte und uns aufforderte, die Kreidezeichnungen meines Sohnes auf der Straße vor ihrem Haus sofort zu entfernen. Ihre Kinder nähmen Anstoß daran, dass er seinen Namen dort auf die Straße geschrieben hatte. Sie war wohl der Auffassung, der Straßenabschnitt vor ihrem Haus gehöre ihr auch und fühlte sich in ihrem Eigentumsanspruch bedroht. Die Mutter meines Sohnes war an der Tür und tat kurz darauf, wie ihr geheißen wurde. Noch heute bedaure ich, dass nicht ich an die Tür gegangen war.

Dann kam Samstag, der 23. März 2019, an dem ich morgens vor dem Haus auf ein Skateboard stieg, das mein Leben fast beendet hätte und für immer verändert hat. Ich bin der einzige hier, der den Boden des Viertels mit seinem Blut getränkt hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die mich immer mit diesem Ort verbinden wird.

Das asiatische Paar scheint nicht mehr hier zu wohnen, das seine Katze immer an einer eleganten dünnen roten Leine die Straße hinunter und wieder hinauf führte.

Da ist der Nachbar, der uns letztes Jahr im Schlafzimmer aus seinem Fenster gegenüber beim Vögeln beobachtete. Der Spanner wollte seine Freude bei diesem Tun offensichtlich mit uns teilen, denn er kommentierte um 1 oder 2 Uhr nachts unser Treiben mit einem etwa 20-sekündigen stroposkopartigen Lichtwechsel durch rasches An- und Ausschalten seines bis dahin dunkel gebliebenen Zimmers. Dieser Mann tritt sonst nur dadurch in Erscheinung, dass er seinen Nachbarn Schläge oder Klagen androht. 

Da ist der sympathische Spanier, der mit seinem Sohn seit einigen Monaten auf der Straße Tennis übt. Der Sohn macht gute Fortschritte und der Vater schiebt bei jedem Fahrzeug geduldig und freundlich grüßend das Netz zur Seite. 

Meine Putzhilfe berichtete vor Jahren aus einem Nachbarhaus, in dem sie tätig war: Dort lägen überall offen Drogen herum, Spritzen. Sie war nur ein einziges Mal dort. Mir und einem anderen Nachbarn fiel nur auf, dass die Bewohner immer mit dem Auto in die Garage fuhren und diese sofort schlossen, auch wenn sie die Garage nur eine Minute später wieder mit dem Auto verließen. Die Rolläden waren meistens zu oder halb zu. Der Garten war verwildert. Niemand zeigte sich im Garten. 

Manchmal höre ich nachts das Schreien einer Frau. Anfangs war ich verunsichert, ob es vielleicht Hilfeschreie seien. Aber die Regelmäßigkeit, die Uhrzeit und die Zuspitzung der Schreie während eines Zeitraums von etwa 15 Minuten lassen mich inzwischen an lustvollere Auslöser denken, die keiner Hilfe meinerseits bedürfen.

Seit zwei, drei Jahren steht ein Schild an der Zufahrt zum Holbeinviertel. Es wurde ohne Genehmigung der Gemeinschaft von einem Anwohner aufgestellt. Es versprüht den Charme einer schwäbischen Justizvollzugsanstalt. Ein amateurhafter schwarzer Umriss eines Siedlungsteils wird von schlechter Schrift auf gebürstetem Edelstahl begleitet. Mein Hinweis in der WhatsApp-Gruppe, dass das hässliche Stück in den wenigen Worten auch noch einen Schreibfehler enthalten würde, wurde von dem bildungsfernen AfD-Wähler in unserem Viertel mit dem Hinweis: »Holbein schreibt man ohne h« kommentiert. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn aufgeklärt habe, dass ich die ›Privatstrasse‹ gemeint hatte. Vermutlich hätte er den Fehler nicht erkannt.

Da sind die liebenswerten, meist fröhlichen, fast immer lauten Kinder, die die Straße als Spielplatz begreifen. Neulich hielt ein kleines Mädchen vor mir an und fragte mich »Wie heißt Du?« Ich nannte ihr meinen Namen, fragte nach dem ihren, sie sagte ihn mir, nickte — wohl als Zeichen, dass damit ihr Informationsbedarf gestillt war — und fuhr auf ihrem Tretroller davon.

Da ist das hagere, immer in Gespräche vertiefte blonde Paar mittleren Alters, das immer mit schnellem Schritt die Straße durchmisst. Nie habe ich sie ein Fahrzeug nutzen sehen, kein Rad, kein Auto. Sie wirken nicht gehetzt, sie gehen einfach in einem schnellen Tempo durchs Leben.

Viele im Viertel haben große Angst vor Einbruch und sichern ihre Wohnungen und Häuser mit Alarmanlagen und dicken Schlössern. Meine Haustür schließt schlecht und steht manchmal die ganze Nacht offen und regelmäßig vergesse ich das Garagentor zu schließen und erhalten dann Anrufe oder Nachrichten von freundlichen Nachbarn, die mich darauf hinweisen und für mich das Tor schließen. Noch nie ist etwas weggekommen.

Die Gärten hinter unseren Häusern wurden von den Nachbarn inzwischen mit Zäunen, teilweise hohen Zäunen voneinander abgegrenzt. Groteske, hässliche Aufstellpools nehmen zunehmend mehr Raum auf den kleinen Flächen ein. Wenn die Kinder sich begegnen wollen, müssen sie nun klingeln oder telefonisch Verabredungen treffen. Es wird nicht mehr gemeinsam gegrillt oder getrunken. 

Nell-Breuning-Straße. Ich würde wetten, dass nicht einer von hundert Einwohnern dieser Straße auch nur eine Ahnung hat, warum die Straße so heißt. Dabei lohnt ein Blick auf Leben und Werk des Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning. Holbeinviertel. Wer aus dem Viertel stand schon einmal im Städel vor einem Werk von Hans Holbein dem Jüngeren oder Hans Holbein dem Älteren?

 

Ich liebe es, vor dem Haus zu sitzen, an meinem Wagen, Motorrad oder Fahrrad zu schrauben und die Passanten zu beobachten. Oder meinem kleinen Sohn beim Spielen zuzuschauen. Wie er Fußball spielt mit den anderen Jungs oder die Zischlaute eines Laserschwerts nachahmend mit imaginären Gegnern auf der Straße kämpft. Dann fühlt sich das Leben hier richtig an. Das wird sich ändern, wenn mein Sohn und die Kinder der Nachbarn ausgezogen sein werden. Dann sollten wir Platz machen für andere. Denn für Familien, nicht für alte Menschen, ist dieser Ort gemacht.

TEILEN
KATEGORIENALLES, FAMILIE
Vorheriger Beitrag
Auf der Höhe:
San Bernardino
Nächster Beitrag
Auffälligkeiten

1 Kommentar

  • 23. Oktober 2022 bei 20:57
    Gerhard L. Mueller-Debus

    Ein beeindruckendes Szenario hat Herr Wolff hier beschrieben, dies fuer mich umso mehr, als wir auch einmal erwogen hatten, in diese damals noch im Bau befindliche Straße zu ziehen. Wir hatten sogar schon eine Musterwohnung besichtigt, haben aber letztendlich den Schritt doch nicht vollzogen, sondern blieben in der Nachbarschaft des Schweizer Platzes.Eigentlich ist für mich nur schwer vorstellbar, dass jemand Pater von Nell-Breuning nicht kennt, wohl einen der letzten deutschen Universalgelehrten, der über hundert Jahre alt wurde. Das von Herrn Wolff beschriebene menschliche Umfeld dort ist aber im Grunde genommen auch anderswo anzutreffen – vielleicht nicht ganz so transparent, wie dort an der Bahnlinie, wo man halt recht eng aufeinander wohnt.

    Antworten

Hinterlass eine Antwort

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

15 49.0138 8.38624 1 1 4000 1 https://667.run 300 1