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Stell Dir vor,
es ist Krieg und keiner geht hin

Bewundernd blicke ich in diesen Tagen auf die Ukraine. Der Präsident Wolodymyr Selenskyj führt mit starken und überzeugenden Argumenten und er geht mit gutem Beispiel voran. Seine Rhetorik hat Kraft, sein Auftreten zeugt von Empathie. Das Angebot der US-Regierung, sich ausfliegen zu lassen, hat er zu Beginn des Krieges abgelehnt und damit persönlichen Mut und Opferbereitschaft bewiesen. Es ist ihm ernst mit seiner Haltung. Er hat Überzeugungen. Er steht für seine Freiheit und die Freiheit seines Landes ein – nicht für die Freiheit seines Volkes, denn es leben Ukrainer und Russen in dem von ihm geführten Land. Warum folgen ihm seine Landsleute? Weil er ein Beispiel gibt. Weil er zeigt, dass er einer von ihnen ist, egal, ob er siegen oder untergehen wird. Er ist ein Primus inter Pares. Und die Chancen standen zu Beginn des von Russland begonnenen Krieges alles andere als günstig. Der Westen ging wie Putin von einem raschen Sieg der Angreifer aus.

In jedem Moment sterben in der Ukraine Menschen einen grausamen, überflüssigen Tod. Männer genauso wie Frauen, Kinder ebenso wie alte Menschen. Die Angreifer kennen keine Gnade, keinerlei Respekt. Sie feuern blindwütig auf Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser. Und die Ukrainer weichen nicht zurück, trotz der Überzahl der Angreifer, trotz der technischen Übermacht, die sich ihres Landes bemächtigt hat. Sie sind, wie ihr Präsident, bereit für ihre Überzeugungen, für die Zukunft ihres Landes zu sterben. Sie sterben zu Tausenden für das Ideal vom Leben als freie Menschen. Sie sterben für die Meinungs- und die Pressefreiheit, die in Russland längst mundtot gemacht wurde. Die Ukrainer sterben für die Ideale, für die der Westen einmal stand. »Give me your tired, your poor / Your huddled masses yearning to breathe free.«

Nun stellen wir uns vor, die Russen seien nicht in der Ukraine, sondern in Ostdeutschland eingefallen. Dresden sei bereits vollständig zerstört. Leipzig stünde in Flammen. Vor Rostock lägen russische Landungsschiffe. Berlin würde permanent von Flugzeugen aus bombardiert und mit Raketen beschossen. Der Reichstag läge in Trümmern, die Gedächtniskirche wäre zerstört, ebenso die Alte und die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Der Gigantenfries des Pergamonaltars wäre zerstört und unter Tonnen von Stein begraben. Und täglich stürben Hunderte von Menschen im Bombenhagel und durch gnadenlose Angriffe mit Panzern und Infanterie. Tote lägen zu Tausenden in den Straßen und in den Kellern zerstörter Gebäude. Würde unser Kanzler Olaf Scholz sein Leben riskieren und die Bevölkerung täglich durch sein Vorbild zum Widerstand motivieren? Würde die woke Jugend ihre Sorge um den Klimawandel für einen Moment unterdrücken und das Gendern als das erkennen, was es immer war, die überflüssige Grille einer saturierten und dekadenten Gesellschaft? Wie würden die Mütter vom Prenzlauer Berg und aus Friedrichshain, die ihren Kindern das Spielen mit Waffen immer verboten haben, auf die Bedrohung reagieren? Wie die Berliner Pädagoginnen der KiTas, die schon die Kleinsten nötigen, vom »Freund*Innenkreis« zu sprechen? Würden diese Frauen wie die Miss Ukraine Anastasia Lenna mit dem Gewehr in der Hand an die Front ziehen? Würden die Frauen der Grünen eine Frauenquote an der Front fordern, um Gleichberechtigung beim Sterben im Kugelhagel herzustellen? Niemand spricht davon, dass die »alten weißen Männer« und die »toxisch männlichen« Ukrainer mannhaft in die Schlacht ziehen. Sie sind schlecht ausgebildet, schlecht ausgerüstet, aber dazu bereit, für die Freiheit und Zukunft ihrer Millionen Frauen und Kinder zu sterben, die sich im Ausland in Sicherheit gebracht haben. Wo bleibt der Dank, die Anerkennung unserer Verteidigungsministerin Christine Lambrecht für diese im besten Sinne starken Männer?

Möchten wir uns vorstellen, wir müssten uns auf die Opferbereitschaft der deutschen Jugend, der deutschen Gesellschaft verlassen? Würden die Flüchtlinge aus Syrien die neue Heimat verteidigen oder doch lieber in das nächste europäische Gastland weiterflüchten? Würden die aus der Türkei stammenden Deutschen aus Kreuzberg, die aus Italien stammenden Deutschen in Stuttgart, die vor dem Krieg geflohenen Frauen und Männer aus Ex-Jugoslawien sich der existenziellen Bedrohung, dem Kampf stellen? Ich, der überzeugte Zivildienstleistende von 1989, würde meine Gewissensentscheidung heute anders treffen. Ich würde nicht mehr 18 Monate lang das Gesundheitssystem subventionieren, ich würde mich für die Bundeswehr entscheiden. Das erscheint mir spätestens seit den Folgen von 9/11 richtig.

13% der Soldaten bei der Bundeswehr sind Frauen, das gilt es anzuerkennen. Das bedeutet aber auch, dass 87% der Soldaten Männer sind. Diesen Männern wurden zuletzt drei Verteidigungsministerinnen vorangestellt. Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer wurden im Verteidungsministerium »geparkt«, weil sie an anderer Stelle versagt hatten. Und auch in diesem Ministerium haben sie sich nicht durch vorausschauendes, kluges und kompetentes Handeln ausgezeichnet. Aber die Quote wurde erfüllt. Frau von der Leyen wurde nach Europa weggelobt. »Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa«, scherzte man einst. Dieses Zitat muss nun auch gegendert werden.

Würde ich heute in den Kampf ziehen? Ja. Würde ich mir wünschen, dass mein 21-jähriger Sohn Paul in den Krieg zieht? Um Gottes Willen, nein. Ich habe einen guten Teil meines Lebens gelebt, das meines Sohnes liegt noch vor ihm. Meine Phantasie reicht sicher nicht aus, mir die Schrecken des Krieges leibhaftig vorzustellen, aber ich würde das in Kauf nehmen und hoffen, dass mein Sohn verschont bliebe von diesem Grauen.

Als Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte und 1919 der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet werden sollte, mussten die Delegierten Deutschlands an fünf ›Gueules Cassées‹ (deutsch: zerschlagene Fressen) vorbeidefilieren. Es waren fünf französische Kriegsveteranen, deren Gesichter durch Granatsplitter zerfetzt und von Gewehrkugeln zerstört worden waren.

Wäre Deutschland, wären die Deutschen heute dazu bereit, ihr Land, ihre Freiheit, ihre Ideale mit ihrem Leben zu verteidigen? Würden die deutschen Frauen und Männer ihre körperliche und geistige Unversehrtheit riskieren? Ich hege Zweifel.

 

 

Wie tief muss der Blick eines am Beginn seines Lebens stehenden Menschen zurück in die Vergangenheit reichen? Sind es 20, 100, 3000 oder gar 50 000 Jahre? Ich spüre ein tiefes Befremden, wenn ich immer wieder erlebe, dass viele junge Frauen und Männer nur noch im Hier und Jetzt zuhause sind. Wir leben in einer Zeit, die angefüllt ist von Nachlässen und Depots, Archiven und Retrospektiven. Das hat auch damit zu tun, dass wir hier in Deutschland seit 77 Jahren im Frieden leben und somit vieles aus dieser Zeitspanne erhalten blieb. Ich verstehe es, wenn darüber eine gewisse Ermüdung gegenüber allem »Vergangenen« eintritt. Und doch ist für mich eine Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit nicht denkbar. Dass die Gegenwart auch ganz anders aussehen kann, sehen wir derzeit täglich in den Nachrichten aus der Ukraine, in der die Freiheit der Gesellschaft und des Einzelnen – übrigens überwiegend von weißen Männern – unter Einsatz ihres Lebens mutig und entschlossen verteidigt wird. Wer von Fridays for Future oder der Grünen Jugend würde sich dem Kampf stellen, stünden die russischen Truppen im Osten Deutschlands und stünde Berlin unter Beschuss? Das ist eine Frage, die in einer anderen Nacht beantwortet werden will.

 

In loser Folge schildere ich unter dem Hashtag #alterweißerMann meine Erlebnisse und Gedanken des vergangenen Tages. Dazu angeregt hat mich das Gespräch mit Anya Schutzbach, die ich am 30. März 2022 nach langer coronabedingter Pause endlich wieder getroffen habe. Wir unterhielten uns über den Zustand der Welt, was uns gerade gedanklich beschäftigt, und über die Veränderungen des Miteinanders und Gegeneinanders in der Gesellschaft.

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