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Treibgut und Stadtmuscheln

Wenn mein Sohn Leonard und ich durch die Stadt flanieren, dann streifen unsere Augen auch immer über den Boden, über den wir gehen. Er bemerkt dann in den Ritzen zwischen zwei Platten eine farbig schillernde Paillette, hebt sie auf und betrachtet sie im Licht der Sonne. Dann finde ich einen seltsam aussehenden Samen einer mir unbekannten Pflanze, den wir anschauen und, wieder nachhause zurückgekehrt, einpflanzen, um zu beobachten, ob es uns gelingt, ihn zum Keimen zu bringen. Aber auch ein Stückchen Blech, eine rostende kurze Kette aus eisernen Gliedern, eine Mutter oder ein eigenartig geformtes Stück Holz sammeln wir auf und verwenden sie für den Bau kleiner Skulpturen oder für das Herstellen von Spielzeugen.

 

 

Mein Sohn Leonard beim Herausbrechen einer neuen »Stadtmuschel«.

 

Das Muschelsuchen am Strand hat immer etwas Sentimentales, Melancholisches. Menschen wollen dort Memorabilia finden und damit Erinnerungen in den Alltag retten um schönerer, aber eben auch vergangener Zeiten zu gedenken. Das Sammeln von Stadtmuscheln und Treibgut verfolgt ein anderes Ziel: Leonard und ich suchen die Poesie im Alltag, ein besonderes Stück, das nur für uns wertvoll ist – denn was wir finden und aufsammeln ist für niemand anderen von Wert. Es hat auch mit einem Geheimnis, einem Zauber zwischen uns beiden zu tun, dass wir Dingen Beachtung schenken, die niemand sonst zur Kenntnis nimmt. Ein über Monate oder gar Jahre im Staub liegender und abgetretener Kronkorken entwickelt ästhetische Reize. Einige sind nur matt und staubig, andere tragen Reste des Aufdrucks der Brauerei. Wieder andere wurden von tausenden von Schritten auf ihrer Oberfläche zerkratzt und in eigenwillige Form getreten und die verkratzte Oberfläche reflektiert die Sonne. Es ist wie bei Schneeflocken, wie bei Muscheln: alle ähneln sich auf den ersten Blick, betrachtet man sie aber genauer, erkennt man die Unterschiede.

Und es gibt auch »Muschelbänke« in der Stadt. Um die Sitzbänke herum am Main finden sich zahlreiche »Stadtmuscheln« auf und im Boden – in allen Zuständen. Wir fanden auf unserer Suche auch drei Münzen: eine so stark oxidiert, dass wir nicht erkennen konnten, woher sie stammt, eine weitere trug eine Prägung, die wir bis jetzt noch keinem Land zuordnen konnten.

 

 

Wir mussten uns bei unserer ersten Treibgutsuche am Main irgendwann disziplinieren, nachdem wir in zwei Stunden nur wenig vorangekommen waren und unser Beutel schwer geworden war. Die Passanten beäugten uns misstrauisch, wenn wir uns wieder zusammen über einen Kronkorken beugten und besprachen, ob wir ihn unserer Sammlung hinzufügen wollten.

Unsere Suche werden wir fortführen. Wir werden unsere Sammlung stetig erweitern. Und gelegentlich ungläubigen Besuchern unsere Schätze vorführen und vermutlich wieder nur Kopfschütteln ernten

»Was ich von Kunst gerne bereitgestellt bekäme,
wäre ein mehr oder weniger präzise mit sinnlichen Mitteln ausformulierter Protest dagegen, 
daß wir Menschen leider nicht zaubern können – alles andere ist Dekoration.«

Dietmar Dath

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