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Fährtenlesen

Ein Dialog mit dem Künstler Jürgen Krause über das Jagen, das Fährtenlesen, das Spurenlegen, das Verfolgen von Ideen und Menschen. Und ein Gespräch darüber, was bleibt und über das, was vergeht.

Schon seit Jahren kenne und schätze ich Deine Arbeiten, Jürgen. Daher sprach ich Dich vor einigen Monaten an, ob ich Dich und Dein Werk zum Thema meines Blogs machen darf. Du hast zugestimmt und wir haben uns seither einige Male getroffen und darüber geredet, welche Form und welchen Inhalt dieser Dialog haben könnte. Wir erörterten, ob wir gemeinsam die Planungen und Gedanken sammeln wollen, die Dich auf dem Weg zu den nächsten Ausstellungen 2022 im Kunstmuseum Wiesbaden und der Kunst Galerie Fürth bewegen. Das schien mir eine Überlegung wert, da Deine dezenten, reduzierten Arbeiten sehr stark durch ihr Umfeld beeinflusst werden und mich Deine Überlegungen zu ihrer Inszenierung interessierten. Worauf würdest Du achten? Was erschiene Dir wesentlich, was wäre zu vernachlässigen? Wie würdest Du auf den Raum und die Arbeiten anderer Künstler reagieren, wo Nähe, wo Distanz suchen? Allerdings verließ mich nie ein leiser Zweifel,  ob das nicht zu einfach gedacht ist, da sich alles, was mit Deinen Arbeiten zu tun hat, in einer feinstofflichen Sphäre bewegt, die Außenstehenden und damit auch mir nur bedingt zugänglich ist und die sich schwer in Worte fassen lässt.

Heute trafen wir uns nach längerer Pause wieder. Ich war zunächst angespannt, da ich den Tag über von Problemen in meinem Gestaltungsbüro geplagt worden war. Und dann haben wir uns gegenüber Platz genommen und in kürzester Zeit waren wir wieder in einen dichten Dialog eingetaucht. Schon nach wenigen Sätzen erwähntest Du den Begriff des »Fährtenlesens«. Du sprachst davon, dass Du eben einen Text für Studenten verfasst habest, der davon berichtet, welche Fährten Du als junger Künstler verfolgt hast, welche Du im Laufe Deiner Entwicklung verworfen und welche Witterung Du immer wieder aufgenommen hast bis heute. Deinen Jagdjargon fand ich überzeugend. Viel in Deiner Arbeit scheint mir mit einem gut entwickelten Instinkt zu tun zu haben. Mit einer Suchbewegung, die mit vorsichtigem Tasten beginnt und dann zu einer entschiedenen Verfolgung führt, wenn die Fährte Dir wertvoll erscheint. Dann sprachst Du von einem Stück Papier, das jemand vor Jahrzehnten weggeworfen oder verloren hatte und das Du zufällig aufgehoben und gelesen hast. Darauf stand: »Fährte. 1000m gelegt 20 11 98  15.15« Du hast das Papier mitgenommen, es bis heute bewahrt und nun steht eine Fotografie davon als Emblem über unserem beginnenden Dialog.

Ich kenne nur wenige Künstler, die so ein klares, souveränes und konstantes Werk aufweisen und sich ihrer Sache dabei so sicher zu sein scheinen. Du nutzt auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Techniken, wie die Zeichnung, die Skulptur oder Deine Werkzeuge. Diese Werkgruppen scheinen mir in ihrer künstlerischen Intention sehr kongruent zueinander, ohne zu Wiederholungen zu führen. Als ich heute davon sprach, dass Du und Dein Werk sich in einer schmalen Nische befänden, in der sich nur wenige Künstler und wenige Kunstinteressierte finden, erwidertest Du: »Es ist eher ein Spalt, ein schmaler Spalt.« Einig waren wir uns auch, dass es Kennerschaft braucht, um die Schwingungen zu empfinden, die von Deinen Werken ausgehen. Ich sprach davon, dass es helfe, die Entwicklung der Kunst der letzten 120 Jahre zu kennen, um Dein Werk verstehen zu können. Du lächeltest und hast erwidert, dass Du gerne deutlich früher ansetzen würdest und wir sprachen über die 7000 Jahre alte Klinge aus Jade, die Du besitzt und deren klare, einfache, schöne Form Du bewunderst. Gefunden wurde sie am Bodensee, woher Du stammst. Abgebaut wurde die Jade in der Jungsteinzeit am Monte Viso. Ich sprach von der von mir bewunderten Löwenfrau, einer rund 40 000 Jahre alten Skulptur aus Mammutknochen und wir fanden uns einig in dem Denken, dass die Menschen früherer Epochen den heutigen Menschen intellektuell als gleichwertig anzusehen sind und nur eine Menge schriftlich gesammelten Wissens vieler Generationen in den letzten 5000 Jahren den Unterschied ausmacht. Während die prähistorischen Menschen nur wenige Generationen zurück- und nur ein, vielleicht zwei Generationen in die Zukunft blicken konnten, verfügen wir heute permanent über das gesammelte Weltwissen im Netz und in zahllosen Publikationen.

Ich erzählte Dir, dass ich mich vor Jahren von Zeit zu Zeit an die Fersen eines beliebigen Passanten in der Stadt geheftet hätte, um zu sehen, wie sich andere Menschen in der Stadt bewegen. Wo sie einkaufen, wie sie gehen, wen sie treffen, wo sie stehenbleiben, was sie betrachten, wohin sie nachhause fahren. Nicht mit einem voyeuristischen Motiv, vielmehr von dem Wunsch und der Neugier getrieben zu erfahren, wie andere Menschen dem Leben begegnen. Du erwähntest, dass Du mit derselben Intention ähnliche »Jagden« angegangen seist.

Roter Punkt 8, 2011, Siebdruck und Stempel auf Papier, 29,7×21 cm · Mit einem solchen Blatt dokumentiert Jürgen Krause eine Grundsteinlegung für die Öffentlichkeit. Die Längen- und Breitengrade geben den Ort der Aktion an.

Du erzähltest, wie Du vor vielen Jahren eine Zeitkapsel in der Nähe des Bodensees, Deiner Heimatregion, vergraben hast. Die Kapsel befülltest Du zusammen mit der damals 8jährigen Tochter eines Cousins. Ihr wähltet aus dem Bauernhof, den Deiner Familie »Schlößle« nennt und seit Generationen bewirtschaftet, den eurer Auffassung nach ältesten und jüngsten Gegenstand, den ihr darin fandet. Die Kapsel wurde mit Bienenwachs abgedichtet und in einen Zementblock eingegossen. Meine Frage nach den von euch ausgewählten Gegenständen konntest Du nicht beantworten, Du hast sie vergessen. Die heute erwachsene Frau möchtest Du nicht fragen. Dir gefällt der Gedanke besser, dass das für Dich im Ungefähren bleibt. Und gleichgültig zeigst Du Dich auch, ob die Kapsel eines Tages gefunden wird oder nicht. Aber dass sie dort ruht und von Dir und der Begegnung mit dem Mädchen und eurem gemeinsamen Tun zeugt, befriedigt Dich noch heute sehr.

Kurz bevor Du gingst, zeigte ich Dir drei Jagdpfeile, die in einer Ecke des Raumes standen. Mein Vater hatte sie in den 70er Jahren auf einer Geschäftsreise in Zentralafrika erworben. Wir betrachteten die Schäfte aus Bambusrohr, die unterschiedlich geformten eisernen Spitzen, die auch nach dieser langen Zeit noch scharf waren. Deine Finger fuhren über die schwarzen Fäden (oder waren es Haare?), die zur Befestigung der Spitzen und der Federn am hinteren Ende der rund ein Meter langen Pfeile genutzt worden waren. Die Betrachtung dieser auf dem Tisch liegenden Waffen, deren Spitzen in verschiedene Richtungen zeigten, bildeten den Abschluss unseres Dialogs.

 

Jedes Gespräch hat sein Reh,
ein Reh tritt durch die Gespräche,
es äst am Rand der Gespräche,
wendet den Kopf, wenn einer was sagt,
fragt nicht oder wartet, bis er endet,
und flieht, wenn es ihn reden sieht,
»Da am Rand des Gesprächs ein Reh.«

Die Lichtung · Gedicht von Hendrik Rost

 

 

 

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KATEGORIENALLES, KUNST
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