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Die Wiege meiner Mutter

Sie stand viele Jahre im Schlafzimmer meiner Großmutter Frieda an der Wand neben dem Ehebett. In der Wiege bewahrte sie Bettbezüge und Decken auf. Auf der einen Seite stand »Wenn ein Volk will leben, braucht es großen Kindersegen«. Auf der anderen langen Seite »Solange Du kannst Din Hann rögen, mußt Du för Din Heimt plögen« (Solange Du Deine Hand regen kannst, musst Du Dich für Deine Heimat plagen). Auf der einen Schmalseite war ein Brett, auf der anderen das Familienwappen der Hitzeroths, der Familie meiner Mutter.  Meine Großmutter schlief allein im Ehebett, denn mein Großvater Hans schlief im ›kleinen Zimmer‹, da er nachts über seine mehrere Meter hohe Antenne auf dem Dach des Hauses über Funk mit den LKW-Fahrern auf den umliegenden Autobahnen von Salzgitter Bad sprach und sich mit ihnen austauschte. Im kleinen Zimmer stand sein Bett und ich erinnere mich an einen gerahmten Stich, der das Portrait von Friedrich dem Großen zeigte. Ich mochte meine Großeltern gern, meine Großmutter war eine herzliche, wenn auch etwas schroffe Frau, meinen Großvater erinnere ich als einen immer zu Scherzen aufgelegten, fröhlichen Mann.

Beide wohnten in einem großen, aus der Jahrhundertwende stammenden Gebäude mit drei Stockwerken im niedersächsischen Salzgitter-Bad, das sie geerbt hatten. Im ersten Stock lebten die beiden in einer kleinen Wohnung, nebenan wohnte ein türkischer Gastarbeiter in einem kleinen Zimmer, von dem ich nur den Vornamen Gültan kannte und der mir immer, wenn ich zu Besuch war, ein 5-Mark-Stück zusteckte und dabei breit lächelte. Im Stockwerk darüber lebte Familie Weidlich. Der Vater war Polizist, die Mutter arbeitete in einem Schokoladenladen (ja, so was gab es in Salzgitter schon in den 1970er Jahren). Auf Weidlichs Stockwerk gab es ein weiteres separates Zimmer, in dem wir Kinder bei unseren Besuchen schliefen. Die beiden Mädchen der Weidlichs, Susanne und Sabine, wohnten ein weiteres Stockwerk höher.

Meine Großeltern hatten einen sehr großen Garten mit einem chronisch undichten Fischteich, den mein Großvater gemauert hatte, und mit mehreren ›Lauben‹, die er im Garten gebaut hatte. Die große Laube, die den Assoziationen, die einem bei dem Wort ›Laube‹ vor Augen stehen überhaupt nicht gerecht wurde, mochte ich besonders. Sie war ein aus dunklem Holz gefertigte, vielleicht 3 x 8 Meter große, rechteckige Hütte mit einem flachen Wellblechdach und großen Fenstern, von denen aus man auf den Baum mit den Boskopäpfeln und die Himbeeren schaute. Hier war eine Art Tresen eingebaut, den ich nie in Funktion erlebte und überall lag meist rostiges Werkzeug herum, das ich gerne in die Hand nahm, betrachtete und befühlte. Alles war voller Spinnweben.

Mitten in einer Nacht im Jahr 1979 fuhren wir die 500 Kilometer nach Salzgitter. Mein Großvater, der nach dem zweiten Herzinfarkt im Krankenhaus lag, war gestorben. Meine Mutter wollte vor Ort sein, wenn seine Frau, ihre Mutter, erwachte, die ebenfalls mit Herzbeschwerden wenige Zimmer weiter schlief. Nachbarn, die ihn am Abend besucht hatten, erzählten später, er habe beim Abschied im Krankenhaus noch alberne Scherze gemacht. Es gab keine Bestattung, keine Trauerfeier. Mein Großvater hatte seinen Körper der Wissenschaft übereignet und sein Leichnam wurde direkt nach seinem Tod in die Universitätsklinik Göttingen transportiert, wo er – vermutlich zu Ausbildungszwecken – seziert wurde. Davon erfuhr ich damals nichts. Für mich war mein Großvater einfach über Nacht verschwunden.

Einen Tag später, ich saß in der Badewanne meiner Großmutter, teilte mir meine Mutter mit, dass sie und mein Vater sich trennen würden. Zum Trost sollte ich aus meinem kleinen Kinderzimmer in das Elternschlafzimmer umziehen. Über das große Zimmer mit der großen Fensterfront freute ich mich und ich vermute heute mehr, als dass ich es wüsste, dass die Nachricht von der Trennung meiner Eltern mich wohl eher erleichterte. In dieser Situation ließ mein Vater meine Mutter, meine Schwester und mich allein zurück und reiste, wie ich heute weiß, am Tag nach dem Tod seines Schwiegervaters mit seiner Geliebten nach Rom.

Aber zurück zur Wiege. Nach dem Tod meiner Großmutter 1992 nahm meine Mutter die Wiege mit. Bis dahin hatte ich mich nie gewundert, warum auf eine der Schmalseiten ein Brett aufgeschraubt worden war. Umso größer war meine Überraschung und meine Irritation, als wir das Brett abnahmen und darunter ein prächtig geschnitztes Hakenkreuz, begleitet von SS-Runen, erschien. Ich wusste, dass mein Großvater im Krieg Soldat gewesen war. Ich hatte nicht gewusst, dass er früh NSDAP-Mitglied und bald auch in der Waffen-SS war. Meine Mutter erzählte, wie die Menschen aus Salzgitter, als der Ausgang des Krieges sich nicht mehr leugnen ließ, mit ihren Waffen und den Abzeichen aus der Nazizeit zum Salgenteich spazierten und die Insignien ihrer Ideologie dort entsorgten. Meine Mutter erhielt einen Rock, der aus den roten Anteilen einer Hakenkreuzfahne genäht worden war, um den Stoff nicht gänzlich zu verschwenden.

Wie meine Mutter mir berichtete, hatte mein Großvater, wie die meisten Menschen seiner Generation, nicht über den Krieg gesprochen. Und heute bereut sie, dass sie es nicht gewagt hatte, ihn danach zu fragen. Außer Bildern, die ihn in seiner SS-Uniform zeigten, gab es bis auf ein Fotoalbum keine weiteren Zeugnisse seiner Kriegsteilnahme. Als ich in den Dreißigern war, beschäftigte mich die Vergangenheit meines Großvaters wieder häufiger, vielleicht ausgelöst durch die Geburt meines ersten Sohnes Paul. Mir war bewusst geworden, dass ich Teil einer Ahnenreihe sein würde und gerade um eine Position aufgerückt war. Ich recherchierte also und erfuhr, dass man beim Bundesarchiv in Berlin als Angehöriger die vorhandenen Dokumente zu einem Nationalsozialisten einsehen konnte. Etwa sechs Wochen nach Einreichung meines Antrags erhielt ich einen dicken braunen Umschlag mit zahlreichen Kopien. Ich erfuhr, dass mein Großvater, der in meiner Kindheit das Land Niedersachsen nur zu Familienbesuchen bei uns in Süddeutschland verlassen hatte, in Frankreich, Italien, Jugoslawien, Polen und Russland im Einsatz gewesen war. Erkrankungen und Verwundungen fanden Erwähnung. Ich sah eine Art Urkunde, die Hans Hitzeroth bestätigte, wie weit er eine Handgranate schleudern konnte. Ich las ein Dokument, das mein Großvater mit seiner Unterschrift bestätigte und das besagte, dass er, wenn er auf der Flucht seine Waffe zurücklassen würde, er diese aus eigener Tasche würde bezahlen müssen. Wegen ständiger rheumatischer Beschwerden wurden ihm 1942 alle Zähne gezogen – sicher keine erfolgreiche Therapie. Die Einheiten, in denen er gedient hatte, wurden genannt. Und ein weiteres Dokument bezeugte seinen Einsatz in Stalingrad. Neben meiner Neugierde, mehr über das Leben meines Großvaters zu erfahren, war ein weiterer Antrieb der gewesen, zu erfahren, ob er Schuld auf sich geladen hatte. Die Dokumente gaben mir keinerlei Anlass ihn zu be- oder zu entlasten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Vor Kurzem habe ich seinen Namen gegoogelt und ihn in einer polnischsprachigen Liste von SS-Männern gefunden. Auch habe ich auf der Seite Traces of War einen Hans Hitzeroth gefunden, der im Panzergrenadierregiment 59 in der 20. Panzerdivision gedient hat und dem die Ehrenspange des Heeres und der Waffen-SS verliehen worden war. Da der Name Hitzeroth selten ist, handelt es sich mit großer Sicherheit um meinen Großvater. Auf einer anderen Seite werden Biografien von »Tätern und Mitläufern« aufgeführt. Hier erscheint der Name meines Großvaters direkt unter dem von Adolf Hitler. Dort steht, er sei SS-Unterscharführer und Angehöriger der 8/53. SS-Standarte gewesen.

Sicherlich wird es einige wenige deutsche Soldaten gegeben haben, die im Zweiten Weltkrieg keine Schuld auf sich geladen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitglied der Waffen-SS, das zu Beginn des Krieges begeistert in den Überfall auf Polen zog und bis 1945 in halb Europa eingesetzt worden war, schuldlos geblieben ist, scheint mir dagegen äußerst unwahrscheinlich.

Heute bin ich im Besitz dieser Wiege. Mit Erlaubnis meiner Mutter, Frauke Wolff (*15. September 1939), habe ich die Wiege dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und dem Haus der Geschichte in Bonn zur Übernahme angeboten. Beide Häuser zeigen großes Interesse.

Mein Großvater Hans Hitzeroth (1905–1979), aufgenommen Mitte der 1970er Jahre.

Ich empfinde zwiespältige Gefühle, wenn ich die Wiege betrachte. Sie ist sehr sorgfältig gebaut worden, die Schnitzerei ist sehr fein ausgearbeitet. Mein Großvater hat sie 1938 fertigen lassen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, ob seine Frau ihm ein Mädchen oder einen Jungen gebären würde. War diese Wiege Ausdruck einer kruden politischen Haltung, die einer infamen Ideologie folgte und die zahlreiche Nachkommen für die »arische Rasse« forderte? Oder war sie nicht auch eine Gabe an das Erstgeborene, dessen sorgfältige und vermutlich kostspielige Anfertigung von großer Vaterliebe und Vorfreude auf das Kind zeugte? Diese Spannung macht für mich die Bedeutung dieses Gegenstands aus, der nicht am Beginn eines tausendjährigen Reiches, aber am Beginn des Lebens meiner liberalen und liebenswerten, heute 82-jährigen Mutter stand. Meine Mutter kümmert sich heute hingebungsvoll um Flüchtlinge und Migranten aus Syrien, Afghanistan und dem Iran. Sie hilft ihnen, die deutsche Sprache zu lernen, vermittelt im Austausch mit Ämtern und bei vielen Problemen des Alltags. Die Familien sind sehr dankbar und schätzen ihre Hilfe hoch ein. Wie mein Großvater wohl heute darüber denken würde?

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